Die Herausforderungen der Autonomiephase meistern:
Impulse für Eltern und Kinder
Die Autonomiephase ist für viele Eltern eine emotionale Achterbahnfahrt. Plötzlich steht da ein Kind, das laut „Nein!“ ruft, sich auf den Boden wirft oder auf einmal „alles allein machen“ will. Was nach Stress klingt, ist ein gesunder und wichtiger Entwicklungsschritt. Kinder lernen in dieser Phase, dass sie eigenständige Wesen sind, mit eigenen Bedürfnissen und einem eigenen Willen. Diese Zeit kann mitunter anstrengend sein, birgt aber auch großes Potenzial für Wachstum – sowohl für das Kind als auch für uns Eltern.
Die Autonomiephase: Was passiert im Kind?
Die Autonomiephase beginnt meist zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat und dauert bis etwa zum dritten Lebensjahr – manchmal auch länger.
In dieser Phase lernen Kinder:
• „Ich bin ich“: Sie erkennen, dass sie eigenständig sind und Entscheidungen treffen können.
• „Ich habe Macht“: Sie beginnen, ihre Umgebung zu beeinflussen, Grenzen auszutesten und ihren Willen durchzusetzen.
• „Gefühle sind überwältigend“: Das kindliche Gehirn ist noch in der Entwicklung. Besonders der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle und rationale Entscheidungen zuständig ist, ist noch nicht ausgereift. Deshalb sind Wutausbrüche keine Absicht, sondern ein Ausdruck von Überforderung.
Die Herausforderung für uns Eltern: unser Kind zu begleiten, ohne in den Strudel der Emotionen hineingezogen zu werden.
Herausforderungen für Eltern: Warum es so anstrengend ist
In der Autonomiephase werden unsere Geduld und unser Nervenkostüm auf die Probe gestellt. Wenn das Kind sich im Supermarkt auf den Boden wirft, weil es den Schokoriegel nicht bekommt, oder sich weigert, die Jacke anzuziehen, geraten wir oft in Stress.
Das liegt daran, dass solche Situationen:
1. Alte Muster aktivieren: Vielleicht wurde auch bei uns früher geschimpft, wenn wir laut waren, und wir fühlen uns dadurch selbst getriggert.
2. Zeitdruck verstärken: Besonders im hektischen Alltag fällt es schwer, Ruhe zu bewahren, wenn das Kind nicht „funktioniert“.
3. Unser Ego berühren: Wir fühlen uns schnell als „schlechte Eltern“, wenn unser Kind einen Wutanfall hat – vor allem in der Öffentlichkeit.
Doch genau hier können wir mit Selbstregulation und Achtsamkeit ansetzen.
Selbstregulation: In der Ruhe liegt die Kraft
Kinder sind wie Spiegel. Wenn wir unruhig, genervt oder laut werden, spiegeln sie unser Verhalten. Selbstregulation bedeutet, in schwierigen Momenten bewusst ruhig zu bleiben, um dem Kind Sicherheit zu geben.
Tipps zur Selbstregulation für Eltern:
1. Atemübungen:
◦ Atme tief durch die Nase ein und langsam durch den Mund aus, als würdest du durch einen Strohhalm pusten. Wiederhole das 5-mal.
◦ Stell dir vor, du atmest Ruhe ein und Ärger aus.
2. Affirmationen:
Wiederhole innerlich einen beruhigenden Satz, z. B.:
◦ „Mein Kind braucht meine Ruhe, nicht meinen Ärger.“
◦ „Es ist okay, dass nicht alles perfekt läuft.“
3. Eine Pause nehmen:
Wenn die Situation es zulässt, gönn dir eine kurze Auszeit. Sag deinem Kind: „Ich bin gleich wieder da, ich brauche kurz eine Pause.“ Geh kurz in einen anderen Raum, trink ein Glas Wasser oder atme durch.
4. Die Situation umdeuten:
Stell dir vor, dein Kind ist ein kleiner Forscher, der seine Welt entdeckt. Statt den Wutanfall als „Problem“ zu sehen, betrachte ihn als Lernerfahrung.
Co-Regulation: Gemeinsam Gefühle meistern
Kinder können ihre starken Gefühle noch nicht allein bewältigen – das müssen sie erst lernen. Hier kommen wir ins Spiel: Mit Co-Regulation unterstützen wir unser Kind dabei, wieder in die Balance zu finden.
Wie funktioniert Co-Regulation?
1. Gefühle benennen:
◦ „Ich sehe, du bist gerade sehr wütend, weil wir jetzt nach Hause müssen.“
◦ „Es ist okay, dass du traurig bist. Ich bin hier.“ Das hilft dem Kind, seine Emotionen zu verstehen und zu ordnen.
2. Beruhigende Nähe:
Manche Kinder mögen es, wenn wir sie sanft halten oder ihnen die Hand auf den Rücken legen. Andere brauchen Abstand. Wichtig ist, das Bedürfnis des Kindes wahrzunehmen.
3. Vorbilder sein:
Zeig deinem Kind, wie man sich beruhigen kann: „Ich bin gerade auch ein bisschen gestresst. Ich atme jetzt tief ein und aus. Möchtest du mitmachen?“
4. Alternativen anbieten:
◦ „Du möchtest den Schokoriegel? Wir können jetzt keinen kaufen, aber zuhause gibt es einen leckeren Apfel.“
◦ „Du willst die Jacke nicht anziehen? Möchtest du sie selbst anziehen oder soll ich dir helfen?“
Achtsamkeit in der Autonomiephase: Ein Geschenk für Eltern und Kinder
Achtsamkeit bedeutet, den Moment bewusst wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten. In der Autonomiephase kann sie uns helfen, gelassener zu reagieren und unser Kind besser zu verstehen.
Achtsamkeitsübungen für Eltern:
• Body-Scan:
Bevor du auf eine stressige Situation reagierst, spüre kurz in deinen Körper: Wo fühlst du Anspannung? Atme in diese Stellen hinein und lass die Spannung mit dem Ausatmen los.
• Dankbarkeitsritual:
Schreib dir jeden Abend drei Dinge auf, die am Tag gut gelaufen sind – z. B. ein Lächeln deines Kindes oder ein friedlicher Moment beim Essen.
Achtsamkeitsübungen für Kinder:
• Gefühle malen:
Lass dein Kind seine Wut oder Freude mit bunten Farben auf Papier bringen. Das hilft, Gefühle auszudrücken, ohne Worte zu brauchen.
• Atemspiel:
Lasst gemeinsam eine Feder schweben, indem ihr sie anpustet. Das macht Spaß und beruhigt.
Im Folgenden nennen wir euch ein paar Beispiele, um das Gelesene zu verstehen.
1. Der falsche Teller beim Frühstück
Eines Morgens wollte mein Kind seinen Joghurt unbedingt aus der Tasse essen, nicht aus dem Teller, den ich schon vorbereitet hatte. Früher hätte ich vielleicht gesagt: „Das ist doch egal, iss einfach.“ Stattdessen habe ich tief durchgeatmet und mir innerlich gesagt: „Es ist okay, flexibel zu sein. Es geht nicht um den Teller, sondern darum, die Bedürfnisse meines Kindes zu respektieren.“ Ich habe die Tasse geholt und gesagt: „Okay, du möchtest deinen Joghurt aus der Tasse. Das machen wir so.“ Mein Kind war sofort zufrieden, und die Situation entspannte sich.
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Bevor du reagierst, atme drei Sekunden bewusst ein und aus. Frag dich: „Wie wichtig ist diese Sache wirklich im großen Ganzen?“
• Schaffe einen kurzen Moment der Ruhe in deinem Geist, bevor du handelst.
2. Der Kampf ums Zähneputzen
Das Zähneputzen war lange eine tägliche Herausforderung. Mein Kind wollte einfach nicht mitmachen. Statt zu schimpfen, habe ich daraus ein Spiel gemacht: „Zeig mir, wie die Zahnbürste die Bakterien fangen kann! Oh, da hinten verstecken sich welche, schnell hin!“ Dabei habe ich darauf geachtet, meinen eigenen Atem ruhig zu halten und einen liebevollen Ton zu bewahren. Die Proteste ließen nach, und das Zähneputzen wurde zum Abenteuer.
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Wenn eine Routine wie das Zähneputzen schwierig wird, frag dich: „Wie kann ich diese Situation spielerisch gestalten?“
• Spüre währenddessen in deinen Körper: Gibt es Anspannung in deinen Schultern oder im Bauch? Lass diese mit dem Ausatmen los.
3. Das „Ich will nicht ins Bett“-Drama
Abends, wenn die Müdigkeit groß ist, kommt oft der Protest: „Ich will nicht schlafen!“ Früher hätte ich versucht, mein Kind zu überreden. Heute sage ich: „Ich verstehe, dass du noch nicht schlafen möchtest. Möchtest du erst eine Geschichte hören oder ein Lied singen?“ Ich setze mich bewusst hin, atme tief durch und sage mir innerlich: „Der Übergang in die Ruhe ist für mein Kind schwer. Ich bin da, um es zu begleiten.“ Die Wahlmöglichkeit beruhigt mein
Kind, und es fällt ihm leichter, zur Ruhe zu kommen.
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Vor dem Zubettgehen: Mache eine kleine Atemübung mit deinem Kind. Lass es spüren, wie die „Traumluft“ tief in den Bauch geht und beim Ausatmen die Anspannung hinausfliegt.
• Wiederhole innerlich eine beruhigende Affirmation wie: „Die Ruhe, die ich ausstrahle, überträgt sich auf mein Kind.“
4. Der Park-Besuch und der Abschiedsschmerz
Nach dem Spielen im Park will mein Kind oft nicht nach Hause. Anstatt das Weinen zu unterdrücken oder es „einfach mitzuziehen“, sage ich: „Ich weiß, es macht Spaß hier. Lass uns überlegen, was wir zuhause Schönes machen können.“ Ich setze mich kurz neben mein Kind, halte seine Hand und atme tief durch, um ruhig zu bleiben. Manchmal sage ich: „Lass uns gemeinsam noch drei tiefe Atemzüge machen, um uns vom Park zu verabschieden.“
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Nutze Übergangsmomente wie das Verlassen des Parks für bewusste Atempausen. Das hilft dir und deinem Kind, den Moment zu akzeptieren.
• Mach mit deinem Kind ein kleines Ritual, z. B. „Tschüss sagen“ zum Park oder zum Lieblingsbaum.
5. Der „Ich mache das allein“-Moment
Mein Kind wollte eines Tages unbedingt selbst seinen Reißverschluss schließen, aber es hat einfach nicht geklappt. Statt es zu drängen oder selbst zu machen, habe ich gesagt: „Ich sehe, du probierst es ganz allein. Wenn du möchtest, kann ich dir helfen.“ Ich habe mich bewusst hingesetzt, meinem Kind zugesehen und tief geatmet, um nicht ungeduldig zu werden. Nach ein paar Versuchen hat mein Kind von sich aus um Hilfe gebeten, und wir haben es zusammen geschafft.
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Wiederhole innerlich: „Mein Kind lernt gerade etwas Wichtiges. Ich bin hier, um es zu unterstützen.“
• Versuche, den Moment wirklich zu beobachten, ohne einzugreifen. Das kann wie eine Mini-Meditation wirken.
6. Die Pfützen und das nasse Chaos
Beim Spaziergang sprang mein Kind voller Begeisterung in jede Pfütze. Früher hätte ich mich vielleicht geärgert über die nassen Schuhe und Kleidung. Heute bleibe ich stehen, beobachte mein Kind und erinnere mich daran, wie viel Freude ich als Kind selbst beim Pfützenspringen hatte. Statt zu schimpfen, sage ich: „Wow, du liebst das! Schau, wie das Wasser spritzt!“ Nach dem Spaziergang sage ich: „Jetzt sind die Schuhe nass. Lass uns schauen, wie wir sie trocknen können.“
Achtsamkeitsimpuls für Eltern:
• Halte inne und fokussiere dich auf die Freude deines Kindes. Spüre, wie es dich daran erinnert, den Moment zu genießen.
• Stell dir vor, du atmest die kindliche Begeisterung ein und deinen eigenen Ärger aus.
Fazit: Ein gemeinsamer Weg
Die Autonomiephase ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance, gemeinsam zu wachsen. Mit Selbstregulation, Co-Regulation und Achtsamkeit können wir diese Zeit liebevoll gestalten und eine starke Basis für die Beziehung zu unserem Kind schaffen. Denke immer daran: Es geht nicht darum, perfekt zu sein – sondern darum, präsent zu sein. Dein Kind braucht vor allem deine Liebe, Geduld und dein Vertrauen.
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Alles Liebe,
Anna, Franzi und Vivian
Verfasserinnen:
Anna Endörfer, gefühlvolle Familienbegleiterin
Franziska Leminski, gefühlvolle Familienbegleiterin
Vivian Neumann, gefühlvolle Familienbegleiterin